Für interessierte Neulinge hier eine – sicher unvollständige – Zusammenfassung der Arbeitsweise im Buurtzorg Modell.

BUURTZORG bedeutet nach Deutsch übersetzt Nachbarschaftshilfe.

In Holland werden Pflegefachkräfte für den Einsatz in ihrer Nachbarschaft ausgebildet. BUURTZORG ist eine ambulanter Krankenpflegedienst, der inzwischen stolze 10.000 Mitarbeiter*innen zählt.

Im Jahr 2007 hat Jos de Blok mit 4 Pflegefachkräften und einer Idee begonnen. Die Idee ist so genial wie einfach: Gib den berufenen Gemeindeschwestern ihre Berufung zurück und schau, dass alle Rahmenbedingungen erfüllt sind, dass das, was sie am Besten können und lieben tun dürfen. Wenn sie nämlich mit ihrer Arbeit  glücklich sind, sind es auch die Patienten, deren Familien und Angehörige.

Jos de Blok ist es gelungen, in knapp 10 Jahren kleinere und größere Schritte zu gehen und dieses zu schaffen. Sein Motto lautet: „Menschlichkeit vor Bürokratie“. Dass das nicht wirklich ein Spaziergang war, lässt sich erahnen.

Der Initiator von BUURTZORG hat mit seinem Konzept den Pflegefachkräften ihren Beruf wieder gegeben. Als er angetreten ist, um mit dem Buurtzorg Modell eine andere Form der Pflege zu finden und zu leben, war das niederländische Pflegeleistungs- und Abrechnungssytem genau so zerfasert und wenig effektiv wie aktuell das Deutsche. Pflegefachkräfte waren genau so ausgebrannt und in ihrem ursprünglichen Idealismus aufgerieben wie bei uns.

Der charmante Niederländer geht unaufgeregt und bodenständig damit um, dass er nicht nur die ambulante Pflege in den Niederlanden auf dem sanften Weg revolutioniert hat, sondern gerade scheinbar so unangestrengt dabei ist, die Pflegewelt international zu verändern.

Belgien hat sein eigenes Buurtzorg Modell schon, die japanischen Regierungsvertreter klopften vor ein paar Jahren an seine Tür – das Projekt BUURTZORG Japan hat im vergangenen Jahr rasant an Fahrt aufgenommen – China, Singapur, Thailand, Australien, USA und das Vereinigte Königreich ergänzen die Liste der aktuellen international laufenden Projekte.

Jos de Blok wünscht sich sehr, dass sein Pflegeansatz in die Welt hinaus getragen wird.

Im BUURTZORG Modell steht der Patient TATSÄCHLICH im Mittelpunkt

Das Ziel ist: „Wahrung der Eigenständigkeit und Unterstützung der Unabhängigkeit (je nach Möglichkeit auch von der Pflege) “

Der erste Schritt im Buurtzorg Modell ist dabei die Beratung und Begleitung der Patienten dahin gehend, wie sie selbst dazu beitragen können, ihre Unabhängigkeit zu erhalten oder wieder zu erlangen. Eine qualifizierte und dokumentierte Pflegeplanung ist hierbei selbstverständlich und unerlässlich.

Der zweite Schritt im Buurtzorg Modell ist der Aufbau eines informellen Netzwerkes bestehend aus Familienangehörigen oder Nachbarn und Freunden. Es kommt oft vor, dass sie erfolgreich in die tägliche Betreuung mit einbezogen werden. Es wird von Fällen berichtet, in denen es BUURTZORG Mitarbeiter*innen mit der Methode der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg gelungen ist, zerstrittene Familien wieder zusammen zu bringen.

Die dritte Ebene der Betreuung umfasst die tatsächlichen pflegefachlichen Tätigkeiten, die vom zuständigen BUURTZORG-Team geleistet werden.

Als vierter Schritt im Buurtzorg Modell erfolgt der Aufbau, die Pflege und die Koordination eines stabilen verlässlichen formalen Netzwerkes bestehend aus Hausarzt, Spezialisten (z.B. Physiotherapeuten), Apotheke, Krankenhaus, und ggf. anderen lokalen und überregionalen Diensten (z.B. Dialyse), die Patienten in Anspruch nehmen.

Für die Patienten gilt: So wenig Gesichter wie möglich, maximal zwei Pflegekräfte für alle Aktivitäten, 24/7 Stunden Erreichbarkeit. Die Pflegeteams kennen die Patienten und Pflegetouren in ihrem Einzugsgebiet und können sich gegenseitig vertreten.

Übertragen auf die Mitarbeit der Einzelnen im Team bedeutet das:

  • Kleine, selbstorganisierte Teams: min. 4 bis max. 10 – 12 Mitarbeitende. Die Teamgröße richtet sich nach dem Patientenaufkommen im Einzugsgebiet und nach den Arbeitszeitwünschen der Mitarbeiter*innen. Arbeitszeit wir flexibel unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebenssituation  der Mitarbeiter*innen und den Kundenanforderungen gehandhabt.
  • Selbstorganisation: eigenständige Einsatzplanung, Gestaltung der Touren, Vertretungsregelung, Abrechnung vorbereiten, Dokumentation & Datenbankpflege, organisieren & arbeiten im Team. Dabei erlernen die Mitarbeiter*innen in einem 3×2 stündigen Training eine speziell entwickelte Methode der Besprechungsgestaltung  und Entscheidungsfindung.
  • Mindful communication: Achtsame Kommunikation ist sehr einfach. Es gibt nur 3 Regeln: 1.Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. 2.Worte, die den Mund verlassen haben, kann man nicht zurück holen. 3.Lasse Deine Worte durch drei Siebe laufen. Das erste Sieb ist die Frage: ist es wahr? Das zweite Sieb ist die Frage: ist es notwendig? Das dritte Sieb ist die Frage: ist es freundlich?
  • Netzwerken: Achtsame Kommunikation im Kleinen und aktive punktgenaue Beteiligung in Kiezstrukturen um ein für den Patienten funktionierendes Netz zu knüpfen.
  • Direkter Kontakt zu: Hausarzt, Krankenhaus, fallbezogen auch zu den passenden Spezialisten, Physiotherapeuten und ggf. Aufbau und Unterstützung bei der eigenständigen Pflege dieser Kontakte innerhalb des individuellen Patientennetzwerks.
  • Wirtschaftliches Denken und Handeln: eigenständig und selbstverantwortlich auf Zeiten und Termine achten, selbstverantwortlich entscheiden und handeln. Achtsamer und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen.
  • Bachelor of Nurse und examinierte Pflegefachkräfte als Generalisten, die alle Arten der Pflegetätigkeit leisten, die für den Patienten erforderlich sind. Dazu gehört neben der medizinischen Pflege eindeutig auch einfach mal den Patienten ein Ohr zu schenken und die persönlichen, familiären oder anderen Sorgen zu hören und ggf. einer besseren Lösung zuzuführen.
  • Die Verabschiedung vom Prinzip der Gewinnmaximierung für das Unternehmen ermöglicht es, Patienten nach der Genesung auch zügig in die Eigenständigkeit zu entlassen.
  • Ein Klassifizierungs- und Bewertungssystem (Omaha-System), das aufgrund dokumentierter (temporärer oder auch langfristiger) Besserung der individuellen Pflegesituation einen flexiblen Umgang mit Pflegezeit ermöglicht. D.h. auch die Reduzierung der Pflegestunden bedingt durch einen erfolgreich begleiteten Genesungsprozess ist möglich. Damit können Pflegefachkräfte Erfolge ihrer qualifizierten Arbeit eindeutig belegen.
  • Kurze Wege und Vielfalt in der Tätigkeit durch unterschiedliche Patientengruppen: Die Teams arbeiten im Kiez und pflegen im Wesentlichen Menschen, die aus dem Krankenhaus entlassen wurden, chronisch Kranke, Demente, alte pflegebedürftige Menschen, aber auch palliative Patienten in der letzten Lebensphase. Sie betreuen aber auch Familien, psychisch Kranke und junge Menschen.

Es sind sechs Punkte in der Herangehensweise, die nur, wenn sie vollständig abgedeckt werden, das Buurtzorg Modell wiederspiegeln:

  1. Die Bedürfnisse des Kunden werden aufgenommen und bewertet. Die Betrachtung ist dabei ganzheitlich und umfasst medizinische Bedürfnisse ebenso wie langfristig vorausschauende Aspekte der zu erwartenden Entwicklung, zusätzlich persönliche/soziale Bedürfnisse. Auf der Grundlage der erhaltenen Informationen wird der individuelle Pflegeplan erstellt.
  2. Die informellen Unterstützungs-Netzwerke werden untersucht und in die Pflege einbezogen.
  3. Formale Betreuung und Hilfsmöglichkeiten werden identifiziert und in das Netz miteingebunden.
  4. Die qualifizierte Fachkrankenpflege wird als Dienstleistung geliefert.
  5. Die Klienten werden in ihren sozialen Rollen aktiv unterstützt.
  6. Die Erhaltung der Unabhängigkeit und die Eigeninitiative in der Selbstfürsorge wird aktiv gefördert.

Diese Herangehensweise erfordert am Anfang eines Einsatzes bei einem neuen Klienten etwas mehr Aufwand. Im Verlauf der Zeit, wenn die Tragfähigkeit des Netzwerks greift, steigt die Zufriedenheit der Klienten, weil sie sich zunehmend sicherer aufgehoben fühlen, die Pflegefachkraft fühlt sich auch entlastet und auch die reine Pflegezeit kann sich im späteren Verlauf verringern.

Wie entsteht ein neues Team?

Wenn sich 4 Interessent*innen zusammengefunden haben, kann es los gehen. Die Neuen bekommen eine Einführung in die Arbeitsweise und die notwendige Ausstattung. Das Training zum Start wird von einer externen Firma durchgeführt.

Insgesamt ca. 25 Trainer*innen, viele von ihnen ehemalige Pflegefachkräfte, begleiten landesweit die aktuell (Stand März 2016) etwa 960 Teams. Pro Trainer*in ergibt sich ein Begleitungsschlüssel von ca. 35-45 Teams. Es geht in den 3 Terminen á ca. 2 Stunden in erster Linie um den Start in die Selbstorganisation. Zusätzlich zu Achtsamer Kommunikation (mindful communication) wird eine speziell entwickelte Besprechungsmethodik vorgestellt, geübt und im Alltag praktiziert.

Bei Achtsamer Kommunikation geht es im Wesentlichen darum, SELBST darauf zu achten WAS man WIE  WEM sagt. Denn Worte, die den Mund verlassen haben, kann man nicht zurück holen. Drei wichtige Fragen dazu sind: Is it true? Is it kind? Is it necessary? (Ist es wahr? Ist es liebevoll? Ist es notwendig?)

Später schauen die Trainer nur noch selten vorbei. Es wird absichtlich kein kontinuierliches Team-Coaching geboten, damit die Teams von Anfang an auf eigenen Beinen stehen lernen. In Konfliktsituationen, die von einem Team nicht selbst gelöst werden können, wird gezielt Begleitung angefordert. Dadurch, dass sich die Teams ihre Kolleg*innen selbst aussuchen, kommt diese Situation relativ selten vor.

Und noch eine verblüffende Zahl zum Schluss: 50. 

Es ist die Anzahl der Mitarbeiter*innen die im Headquarter in Almelo die GESAMTE Verwaltung für ALLE Pflegefachkräfte im Einsatz im ganzen Land abwickeln (auch hier: Stand März 2016). Wie kann das sein? Hab ich das richtig verstanden? Kein Fehler in meinen Aufzeichnungen?

Ja, es ist alles ganz richtig: 50 nicht mehr.

Das Gebäude steht in einem kleinen Industriegebiet. Sonne durchflutet die Räume. Es herrscht eine angenehme Atmosphäre.

Glas trennt die Büros, honigfarbene Holz-Töne dominieren das Bild. Die Türen stehen offen. In Jos‘ Büro, gleich unten am Eingang, steht kein Schreib- sondern ein riesiger Besprechungstisch, an dem locker 8 Menschen Platz finden. Hier wird gemeinsam gearbeitet.

Ein kleiner Hund fegt durch die Flure. Besucher werden in einer Art Besprechungsküche im lichtdurchfluteten Dachgeschoss an einem langen weissen Holztisch empfangen. Sehr warm und einladend.

Es gibt keinen CFO (Chief Financial Officer – Leiter Finanzen), keinen Head of HR (Personalchef) oder andere wichtigen „Ciefs of…“ oder „Heads of…“ irgendetwas. BUURTZORG kommt auch ohne Jahres- und andere weit in die Zukunft gerichteten Planungen aus.

Die Ideen und Vorschläge der Mitarbeiter*innen finden über die BUURTZORG Community offene Ohren und oft eine erfolgreiche Umsetzung.

So ist auch das inzwischen wiederholt erfolgreich organisierte Rollator-Rennen entstanden:

Ein grosser Spaß für alle Beteiligten…

Was ist das Ergebnis dieser Arbeitsweise?

Alle Beteiligten sind zufrieden: BUURTZORG hat die höchste Patientenzufriedenheit im Vergleich zu 307 Mitwettbewerbern und wurde seit 2011 viermal in Folge von seinen Mitarbeiter*innen zum „Attraktivsten Arbeitgeber in den Niederlanden“ gewählt.